Kim Lan ThaiIn einem kälteren Land
Kim Lan Thai |
„… Kim Lan Thai ist nicht einfach nur Vermittlerin asiatischen Denkens nach Deutschland, sie ist nicht einfach nur Dolmetscherin zwischen den Sprachen und Kulturen, sondern sie unternimmt einen Balanceakt, der eine eigene, sehr persönliche, aber auch Richtung weisende kreative Synthese darstellt, also nicht einfach asiatische Vorstellungswelt in deutschem Gewand, ganz sicher nicht Übersetzen vietnamesischer Gedichte in deutsche Sprache, sondern der Versuch, aus der ständigen Spannung, der sie in ihrem Leben ausgeliefert ist, etwas zu entwerfen, das weder einfach Heraufbeschwören des „Dortigen“ noch einfach Eintauchen in das „Hiesige“ ist, sondern die Spannung zwischen den Welten fruchtbar werden zu lassen für Eigenständiges und Neues.“
Irmgard Ackermann
Kim Lan Thai
In einem kälteren Land
(Gedichte, Deutsch und Vietnamesisch)
deutsch
tiếng Việt
Für meine Tochter Mai Lan Minh Hanh Tuong Nhi
Danken möchte ich
meiner verstorbenen Freundin E. Weinberg, deren aufmerksames Hinhorchen mir die Freude gab, weiter zu schreiben.
Frau Dr. I. Ackermann für die verständnisvolle Einleitung und nicht zuletzt Herrn Dr. W. Böhme für die Ermutigung zum Selbstvertrauen, damit diese Zeilen endlich an die Öffentlichkeit kommen.
Zum Geleit
Irmgard Ackermann
Kim Lan Thai hat ihre Gedichte in deutscher Sprache geschrieben, das heißt weder einfach, dass sie aus der vietnamesischen Sprache in das Deutsche übersetzt, noch dass sie sich einfach in deutschen Ausdrucksformen bewegt. Hier ist in der Tat ein neuer und eigener Klang zu hören, den es bisher so noch nicht gegeben hat. Was macht also die Eigenart dieser Gedichte aus, und wie erklärt sich die Faszination, die von diesen Texten ausgeht?
Einmal ist da die Sprache, die aufhorchen lässt. Sie ist unkompliziert, aber doch komplex, ebenso weit entfernt von forciertem Ausdruck und sprachlichem Experimentieren wie von Alltäglichkeit. Vielleicht ist es gerade die Tatsache des Schreibens in der „fremden Sprache“, die die sprachlichen Mittel bewusster abtastet und ungewohnte, überraschende Möglichkeiten, die sich dem Muttersprachler nicht so ohne weiteres anbieten. Wenn „die Einsamkeit zur Heilsamkeit wird“, wenn „der uralte Baum im dunklen Hof schneeblumig aufblüht“, wenn „alleinsein“ ersehnt wird oder wenn der verschreckte Vogel „topfenrhythmisch zu erzählen anfängt“, so lässt die Ungewöhnlichkeit der Ausdrücke den Leser anhalten, noch einmal lesen, und vielleicht ein weiteres mal, bis der Hintersinn aufleuchtet, der im sprachlich vertrauten Gefüge leicht überlesen wird. Nicht nur ungewohnte Wortverbindungen, auch ungewohnte Wortstellungen („nimm bitte nicht all zu viele auf deutschem Wortschatz absolute Begriffe“) oder offen gehaltene syntaktische Beziehungen („die halbe Erdkugel wundgelaufen wieder daheim“) können diese Wirkungen erzielen, wenn der Leser sich einlässt auf das Experiment, einen gewissen Schwebezustand nachvollzieht, auf eindeutige Festlegungen verzichtet.
Auch die Bildersprache bringt neben vielen Signalen der vertrauten und alltäglichen Umwelt eine Ausweitung in solche Bilder, die dem westlichen Leser nicht so selbstverständlich sind, wie etwa die Longan-Bäume, die Bananenblätter oder die roten Libellen, die Exotik und Üppigkeit beschwören, und die Lotosblüten, die auf die Vorstellungswelt des Buddhismus verweisen. Aber nicht nur solche „exotischen“ Versatzstücke weisen auf den „fremden“ Hintergrund, sondern auch solche Bilder, die uns vertraut und alltäglich scheinen, wie etwa der Regen oder die Teeblüten. Erst bei genauem Hinhören wird einem bewusst, dass diese Bilder keineswegs vertraute Dinge signalisieren, sondern dass in ihnen asiatische Vorstellungen einen konzentrierten Ausdruck gefunden haben: Der Regen, der in vielen der Gedichte beschworen wird, hat einen anderen Stellenwert als in unseren Breitengraden: Regen wird als der Bote der Heimat angesehen, der die Fremde erträglich macht, Regenwasser bringt Heilung, Erquickung und kann die mit allen Sinnen nachvollziehbare Bestätigung für das „Zuhausesein“ werden. So ist auch die Teeblüte nicht nur irgendeine Blüte, die durch Schönheit oder Duft bezaubert, sondern sie ist das Bild, in dem der „vertraute Duft einer versteckten winzigen Teeblüte“ zum Wegweiser in die Kindheit wird, eine Bestätigung des Zuhauseseins („Großmutters Garten“).
Und schließlich ist da eine Vorstellungswelt, die wie Sprache und Bilderwelt ihren Ausgang nimmt in Vorstellungen, die dem westlichen Leser vertraut sind: Philosophische Begriffe und Lust am Argumentieren bilden den einen Pfeiler der Brücke, deren anderer wiederum in eine andere Richtung weist, nämlich in die buddhistische Vorstellungswelt, in das Leben durch das Karma, „zurück zum Zen“. Es liegt nahe, die eigentliche Triebfeder für die Aussage der Gedichte in der buddhistischen Welt zu sehen, aber ähnlich wie in der sprachlichen Symbiose und der Verschmelzung westlicher und östlicher Bilderwelt wäre es wohl zu kurz gegriffen, wenn man diese Gedichte allein ihrem asiatischen Hintergrund würde verstehen wollen:
Kim Lan Thai ist nicht einfach nur Vermittlerin asiatischen Denkens nach Deutschland , sie ist nicht einfach nur Dolmetscherin zwischen den Sprachen und Kulturen, sondern sie unternimmt einen Balance-Akt, der eine eigene, sehr persönliche, aber auch Richtung weisende kreative Synthese darstellt, also nicht einfach asiatische Vorstellungswelt in deutschem Gewand, ganz sicher nicht Übersetzen vietnamesischer Gedichte in deutsche Sprache, sondern der Versuch, aus der ständigen Spannung, der sie in ihrem Leben ausgeliefert ist, etwas zu entwerfen, das weder einfach Heraufbeschwören des „Dortigen“ noch einfach Eintauchen in das „Hiesige“ ist, sondern die Spannung zwischen den Welten fruchtbar werden zu lassen für Eigenständiges und Neues.
*
Anstelle des Vorwortes
Heute kommt der Herbstregen nach vielen Tagen Sonnenschein wieder, wie ein Trost mit gemischten Gefühlen: Melancholie und Seligkeit zugleich. Das Herz schwillt schmerzend mit der rasenden Geschwindigkeit des Klangs der Regentropfen am Fenster.
Zu regnen ist mein Wunsch, dieser Wunsch, mich zu vergessen im Bewusstlossein, im fließenden unendlichen Herunterfallen, ohne ein Wozu als einen dem Regentropfen fremden Laut zu heben.
Im leichten Fieber des späten Sommers träume ich, auf meinem eigenen Leben reitend, durch Millionen Lebenskarma hindurch reisend. In diesem Regen träume ich wie immer in jedem Regen des Lebens, dass ich mich auf einer Reise befinde, die einen Kreis wie die Erdkugel vollzieht, so rund und so vollkommen wie jener Regentropfen, der ins Meer lautlos hineinrollt, der vom Himmel die Erde berührt, mit unendlichem Klang und Schall den ganzen Kosmos füllt.... In ihm fließen Zeit und Raum ineinander, Ferne und Nähe verschlingen sich, Kindheit und Altwerden vereinigen sich, Traurigkeit und Heiterkeit versöhnen sich miteinander...
Im Regenrauschen verspüre ich jedes Mal dieses glückselige Gefühl: Als ob der Regen über Millionen Jahre hindurch zu mir hereilt, als ob er alle Erdteile überschreitend zu mir herfällt, er ist so alt wie der Geruch der Erde in der Regenzeit und so neu wie seine frische Klarheit am Frühlingstag. In ihm begegne ich nicht nur meiner eigenen Kindheit, sondern auch dem Ursprung aller Erdteile. Bei dieser Begegnung entsteht so etwas wie eine selige Sehnsucht, die meine vom Regenklang betäubte Seele zur Abgeklärtheit aufregt, eine Sehnsucht nach etwas schon Bekannten in mir, die dann in Erfüllung geht...
Im ersten Augenblick des Rauschens ist es mir, als ob ich die Erdkugel in meinem Schoß halte, mit und auf ihr fliege, auf einer Reise, die überall hinführt, und Nirgendwo erscheint mir als fremdes Land...
deutsch
tiếng Việt
Begegnung Nr. 1
Die erste Nacht
im fremden Land
vor fremder Wand
im fremden Bett, Schlaflosigkeit
bemalt
weiß
die Nacht
in frühen Morgenstunden
kommt plötzlich
der Regen.
Kommt da
irgendjemand
aus der Heimat?
deutsch
tiếng Việt
Zum deutschen Freund
doucement, doucement
mein Lieber
sprich bitte
in der Sprache der Liebe
nicht zu laut
nimm bitte
nicht allzu viele
aus deutschem Wortschatz
absolute Begriffe
denn
noch bin ich
ein Kind
in deiner Sprache
und nehme dich
so gern
beim Wort.
deutsch
tiếng Việt
Morgenregen im Ausland
Welcher verlassene Vogel
singt obdachlos
der blassen Morgendämmerung entgegen
so nass und kalt klagend
mich aus dem flüchtigen Gemeinsamsein
mit den Meinen daheim
verschreckend
so dass
es mir
wieder
schwer
fällt
in aller Einsamkeit
zu zählen
noch
einen
Regentag
im Ausland.
deutsch
tiếng Việt
Vorfrühling
Die Sonne
fällt schon
hinter den Berg
lichte Dunkelheit
fliegt hoch
zum vergoldeten Horizont
Nur der winzige Vogel im Hof
singt noch
die - Zeit - wärmend
in den ewigen Frühling
hinein
deutsch
tiếng Việt
Frühling
Der Frühling
keimt
schon aus der Erde
Das zartgrüne Gras
berührt
schüchtern
den blauen Horizont.
Der dürre Wald
regt sich
im rosa Licht
des jungen Mondes
auf
neues Karma.
deutsch
tiếng Việt
Morgen am See
Der Abendstern
hängt noch
verschlafen im See.
Die Flügel
der roten Libelle
zittern
im Tau
und
erschrecken leise
die verträumten Seerosen.
deutsch
tiếng Việt
Abend am See
Das Gesicht des Sees
so still
wie Buddhas Antlitz.
Die Seerosen
halten noch inne
auf feuchten Lippen
das Lächeln der Mona Lisa.
Auf dem Heimflug
tunkt
die verspätete Schwalbe
das Haupt
ins holde
Wasser
und holt
auf Flügeln
das Licht anheim.
deutsch
tiếng Việt
Sommerregen
Der Abendregen
regnet grün
im Englischen Garten.
Das blasse Gras
weint
um den letzten Tropfen
des Lichts
auf der Spitze.
Am Ufer
des rauschenden Baches
schlummert
ein liebendes Paar
in ewiger Umarmung.
deutsch
tiếng Việt
Sommer I
Inmitten des Lebens
zwischen grünen Feldern herumirren
das Gesicht
dem luftigen Sonnenschein
hochentgegengehalten
im tiefen Juni-Grün
das Herz
unendlich versinken lassen
und allein-
sein.
deutsch
tiếng Việt
Sommer II
Juni-Kirschen
halb blass
halb rot
im grünen Licht
des sonnenberauschten Laubes
leiden
zögernd
genießend.
deutsch
tiếng Việt
Herbstregen
Die letzten Rosen
hängen
sommersehnsüchtig
zur Erde
- Regen fällt
auf Regen -
es
erkältet sich
zum ersten Male
die verworrene Seele
wieder
deutsch
tiếng Việt
Herbststimmung
Das rote Blatt
fliegt
zum blauen Himmel im See
zurück
heilfroh
mich
zum anderen Ufer
bringend.
deutsch
tiếng Việt
Wieder Herbstregen
Hörst du, mein Lieber
das leise Vibrieren
der grünen Farbe
im tiefversunkenen Laub
des Englischen Gartens.
Es rauscht
wieder
der Herbstregen
zur
Sommervollendung.
deutsch
tiếng Việt
Die Zeit
Von Zeit
gerührt
läuft
das prachtvolle Gelb
über
verblasste Blätter
zum
vollen Klang
der Herbstsonate.
deutsch
tiếng Việt
Frühschoppen [9] zum Frühling
I.
Des Jahres
linde Nacht
malt wie erwartet
im Teich
die junge Mondfrau [10]
den ersten Bogen
ihrer feinen Augenbrauen
zum Willkommen
des Frühlings
II.
Des klaren Morgens
aufgewacht von tiefer Winternacht
da bricht heraus
aus Adern der Äste
die Röte
zum
Verschönern
des blutjungen Gesichtes des Frühlings
III.
Zur glücklichen Himmelsstunde
der Entbindung der Erde
kehren zurück
die Schmetterlinge
zum Baum
die grüne Pracht des Frühlings
zu besticken
IV.
Im tanzenden verstaubten Sonnenlicht
sucht inbrünstig
der rückkehrende Vogel
auf dem vermoosten Dach
alte Spuren
des verlassenen Nestes
am Tor
frohlockt schon
die Ankunft des Frühlings.
deutsch
tiếng Việt
Erster Schnee
In tiefer Nacht
pulst aus der Brust
das Blut
in geheimnisvoller Unruhe.
Wie leuchtend still
zeigt sich
am frühen Morgen
der alte Baum
im dunklen Hof
schneeblumig aufblühend.
deutsch
tiếng Việt
Ein Brief, der nie geschickt wird
Weißt du, dass
wenn ich
etwas Schönes
koche, ich
jedes Mal
bedauere,
dass
du
es nicht mehr genießen kannst
dass
ich nie mehr für dich kochen werde?
Ich vermisse
die Lust, die Freude in deinen Augen
beim Erblicken
der schönen Gerichte.
deutsch
tiếng Việt
Erinnerung
Der Juni geht zu Ende
die Hitze wuchert schwül am Dach
der Himmel nah der Erde
das Bewusstsein kehrt auf einmal um
zu jener Zeit.
Es war ein Novembernachmittag
der erste Schnee weht
in der Theresienstraße
der Himmel verloren
im unsichtbaren Nichts.
Ein bekannter Fremder fährt ab
du gehst
nach Hause
dann ins Bett
träumend, fragend, wartend
verlassen und ruhig und glücklich
und unglücklich und einsam.
Es dunkelt draußen
schnell
wie immer am Novembernachmittag
das Telefon klingelt
du hörst aus weiter Ferne
„du, ich hab’ dich ganz lieb“.
deutsch
tiếng Việt
Liebesgedicht
Die Tage
unserer Liebe
zählte ich
an Deinen
eiligen Telegrammen
„Guten Morgen, mein Liebes, tausend Küsse...dein“
„Habe Sehnsucht nach dir
tausend Küsse...dein“
„Möchte dich unbedingt heiraten
tausend Küsse. Dein“
„Wann heiraten wir?
tausend Küsse. Dein“
Dann verstummt
das Klingeln des Telegrammboten
und ich fange an
die ungezählten
luftigen Küsse
zu zählen
bis dein Bild verblasst...
deutsch
tiếng Việt
Für verwandte Auswanderer
Gegenüber sitzt verschlafen die neue Nachbarin,
erst gestern ist sie im Lager [6] eingetroffen
und verwechselt offensichtlich noch
die westliche Nacht
mit dem östlichen Tag
denn heute inmitten tiefer Nacht
klapperten drüben hinter der Wand im Nachbarzimmer
die Koffer immer auf und zu
dabei weinte die junge Frau untröstlich
um jedes mitgebrachte Stück
voll von Erinnerungen
und mit ihr
im hiesigen Bett
verbrachte ich wieder
die erste weiße Nacht
im fremden Land.
deutsch
tiếng Việt
Traktat über eine Liebesgeschichte
Vor vielen Jahren
in dem Hörsaal 101
sahen wir uns zum ersten Mal
jung
fremd
in den Wolken der Zigaretten
und rauschendem Murmeln anderer Studenten
vor uns
malte der Professor mit dicken Brillengläsern
auf grüne Tafeln
jene seltsamen Zeichenkreise
der Erkenntnistheorie.
Wir begegneten uns
in Richtung Erkenntnis
und als ich,
als einzige Ausländerin in jenem Hörsaal
zurückschaute
sah ich wie zufällig
ein warmes Lächeln
auf deinem sanft leidenden Gesicht
seitdem
sehen wir uns öfters
in Hörsälen
in der Aula, und wo überall noch...
ab und zu
saßen wir zufällig nebeneinander
lasen dasselbe Buch
während der kurzen Pause
wussten wir allmählich
voneinander
wird du bist
und woher ich komme
noch sehr wenig
doch schon viel.
Wie kleine Bäche, die sich treffen
wie jene Buchstaben, die Worte, Sätze bilden
in dem Buch
das wir zusammen lasen
es war
„L’Etre et le Néant“,
das uns eines Nachmittags
in jenem Café
am Siegestor
ins tiefe Gespräch führte
ich merkte nichts um uns
außer jener besonderen Luft von Bayern
es war Föhn,
diese eigenartige Lichterscheinung
eine Mischung von durchsichtigem Sonnenschein
und nervenschmerzender Sehnsucht
du fragtest mich
was ich werden will
und du?
Da lächeltest du ängstlich
die Zukunft
zu ungewiss
du zweifeltest
ja, die Zukunft
sehr weit weg, man kann nichts vorhersehen
du nicht
ich auch nicht
wir waren noch sehr jung
noch auf dem langen Weg der Erkenntnistheorie.
Nun sitzen wir
mal wieder im Café
- in irgendeinem Studentencafé -
sie sind einander so ähnlich
Jahre sind verflossen
du hast gerade
die letzte Prüfung fürs Examen geschafft
deine Zukunft ist nun da
sichtbar im Licht
verdammt, dieser Cafégeruch!
Der Tee, der Lärm, die Menschen,
Bewegungen
Schatten um mich - beinahe die gleichen
auch der Sonnenschein im Fenster
jenes seltsam klare Licht
- in München gibt es Tage -
Föhntage - ewiggleich -
so dass du denkst
du wärest in der Vergangenheit
obwohl du in der Gegenwart sitzt.
Das Geheimnis deiner Zukunft
jenes unbekannte Gesicht,
das mich damals
unheimlich tief im Herzen rührte
enthüllt sich.
Nun weiß ich „es“.
Wir sind am Ende der Erkenntnistheorie
das Wissen - da!
In der kleinen Aula
sitze ich
Tag der Aushändigung der Zeugnisse
dieser Raum, diese Fenster -
Seelenaugen der Studentenzeit -
du kommst verspätet
- wie damals schließt du die Tür hinter dir
bewegst schnell den Kopf
suchend nach einem Platz
- bestimmt nicht nach mir wie damals-
denn wir sind längst getrennt.
Du kommst zu mir - diesmal so gleichgültig
wie zu einer Fremden
- unbeschreiblich fremd -
ich aber möchte heute
deine, auch meine, damalige Zukunft
mit eigenen Augen sehen,
die uns in jener Zeit
so leidenschaftlich bewegte,
diese junge Zeit
wird nun alt
die Zukunft, eine blasse Gegenwart
in deinen Augen
sehe ich
die Zerstreutheit einer neuen Zukunft
die mir so fern ist
dass ich nicht mehr hineinblicken kann.
Beim Abschied
sage ich dir - außergewöhnlich -
servus
in mir
spüre ich plötzlich
einen Augenblick
ewige Ruhe
deutsch
tiếng Việt
Warum diese Liebe
Warum
wolltest du mich
immer binden?
Warum
können wir uns
nicht lieben?
Wie zwei Menschen sich lieben
ohne Grenzen und Eigentum
so einfach lieben und liebsein
wie die Kinder des Olymp?
- launisch und ewig zugleich -
Aber
du willst unbedingt
mich binden
und schickst dann
unsere Liebe
zur Hölle.
deutsch
tiếng Việt
Widerspruch oder Identität
Seltsam
ich laufe weg
von dir
um dich
ganz und gar
zu vermissen
ich suche fern
woanders
um dich
in mir
wiederzufinden
und als ich dich
wiederfand
verliere ich dich
für immer.
deutsch
tiếng Việt
Die Drei-Groschen-Philosophie über die Liebe
Die Liebe eines Deutschen
ist wie ein herrlicher Teich,
in den du hineinspringst
und gleich die Kiesel am Hintern spürst,
die Liebe eines Vietnamesen
ist wie ein geheimnisvoller Fluss
in den du tief hineintauchst
und dich nie mehr herausfindest...
deutsch
tiếng Việt
Man hat dich ermordet aufgefunden
Ich weiß noch
vor Jahren
eines Abends
im heißen Juli
haben wir dich gefunden
auf der Treppe
in der Straße zu München.
Wie ein junger
winziger Vogel
zum ersten Mal
das Elternhaus verlassend
landest du
in Deutschland
voller Hoffnung
und Glauben
und Leidenschaft.
Heute sehe ich dich noch da sitzen
eine blutjunge Blüte
warm und fröhlich, hell und rein
auf den Schultern noch den Sonnenschein der Heimat
in den Augen strahlt der unendlich weite Himmel
wo du zu fliegen träumst
frei und unermüdlich
denn du hast viel Zeit
und Kraft und Glauben.
Du kommst nach Deutschland
zum Studieren.
Aber anstatt des Studiums
lernst du das „echte Leben“ kennen,
das Leben im Ausland
fern vom Elternhaus
weit weg von der Heimat
willst unbedingt die Freiheit genießen,
diese Freiheit - und was für eine Freiheit -
die Freiheit des Glühwürmchens
im Licht der Nachtlokale.
Du junges naives Mädchen
du lachst so gern
und lachst so schön
warum suchst du denn
nur das Lachen im Nachtlokal
bei Menschen, die dich lieber misshandeln
als dich lieben
wie oft bist du schon von ihnen betrogen worden
du kleines, gläubiges Wesen
das warmherzig und menschenfreundlich war
du glaubst, du kannst unter fremden Menschen leben
wie zu Hause
und zu Hause fühlst du dich so fremd wie in der Wüste?
Kennst du denn nicht, meine Kleine
das Vietnamesische Sprichwort:
Das Schicksal der Frauen ist wie
das der Regentropfen,
die fallen mal hier mal dort
mal auf tiefen Brunnen, mal auf segnendes Feld“?
Welcher So Khanh [2] führte dich zu diesem Leben
das leichtsinnige Leben im Ausland?
Warum willst du das Schicksal von Kieu [3]?
in diesem Jahrhundert
auf deine zarten Schultern übernehmen
eine Kieu spielen in dieser fremden Gesellschaft
wo keine Pagode vorhanden ist
in der deine zermürbte Seele
ab und zu Trost finden kann
wo kein Tien-Duong-Fluss [4]
inmitten deines treibenden Lebens
vorbeifließt,
wo einen Augenblick
dein ursprüngliches Herz sich wiederfinden kann
wo kein Lächeln einer Kuan-Yin [5] erscheint,
das dich vor Selbstzerstörung
aus dem Fluss herauszuholen vermag?
Da kannst du nur
einen Mörder für dich finden
ohne Rettung
bist du verloren
nackt auf dem Bett
„mit Wunden bist du ermordet aufgefunden“
Die Nachricht
deines grausamen Todes
durchläuft mich
wie ein Blitz
der mein Herz betäubt
und meine Seele ins Delirium verrückt
du bist also
ins fremde Land gekommen
um deinen Mörder zu finden
- wie absurd dieser Gedanke!
- um so brutaler ist dein Tod -
Wie konnte ich an jenem Abend
auf deinem hellen Gesicht
das Zeichen ahnen?
Du mein armes kleines Mädchen!
deutsch
tiếng Việt
Vietnamesisch
Ich wünsche mir
ich werde
eines Tages
all die deutschen Geliebten
meiner Jugend
einladen
und für jeden ein Gericht kochen,
das sie einmal gern aßen
- knackige Frühlingsrollen mit frischer Pfefferminz
- saftige Wammerl in braunem Karamel
- knuspriges Hähnchen in süßem Honig
dazu die herrliche „Nuocmam“[1]
und ein paar Tropfen saure Zitrone
und sehr scharfe Peperoni
und
mit unheimlicher Liebe
sagen
„Iss mein liebes Kind
mach mir die Freude
und iss gut“
deutsch
tiếng Việt
In Berlin
Am Spandauer Ufer
regnet es
im April
Es macht den Abschiednehmenden
die Augen feucht
morgen begleitet der Regen
die Reisenden übers Meer
und lässt
den Bleibenden
mit den verstummten Regentropfen
im See
vor Sehnsucht ertrinken.
deutsch
tiếng Việt
Zu Hause sein
die halbe Erdkugel
wundgelaufen
wieder daheim:
ein Fußbad
mit kühlem Regenwasser
deutsch
tiếng Việt
Morgenregen in Hue [7]
Am Fenster
singt
der Morgenregen
leise
auf
Bananenblättern
herwiegend.
Im alten Hof
fängt an
der verschreckte Vogel
tropfenrhythmisch der Rückkehrenden
zu erzählen
die Geschichte
des Daches
während
zehn Jahren
Abwesenheit.
deutsch
tiếng Việt
Großmutters Garten
Die Sekunde
unseres Wiedersehens:
Du stehst da
im Schatten der über uns fliegenden Wolken
schweigsam und ungerührt
du weigerst dich, mir zu zeigen
die lieblichen Züge aus alten Zeiten,
die stämmigen Bäume Logan, Lychee, Mango und Feigen
die mir am Dorftor immer säuselnd zuwinken
die wurden vor Jahren geschlagen
auch Maracuja, Pampelmusen, Ananas und Bananen
sind von Bomben zerstört und von Gift verdorben
nur noch Narben sehe ich
auf deinem braunen Körper
den ich damals so gern bekleidete
mit Palmen und Schirmen von Papaya
oder mit anderem Gartenlaub je nach der Jahreszeit.
zerrissen stehst du heute da
stumm und leer wie die über uns ziehenden Wolken
es bleibt nur noch die Spinne webend
deine nackte Haut mit Zikadenschalen bedeckend
auch sie will mir nicht verraten
den alten Eingang
längst von wilden Unkräutern spurlos vergraben,
wenn nicht
der vertraute Duft
jener versteckten winzigen Teeblüte
mir zeigt
den Weg zu unserer Kindheit.
deutsch
tiếng Việt
Mutters „Unkraut-Haar“ [8]
Dreizehn Jahre
Musstest du dich
der Mutterliebe
in der Ferne
Enthalten.
Heute suchst du
reisedurstgestillte Heimkehrende,
geduldiger als eh und je
im schattigen Hof
Mutters weiß - verkümmerte Unkraut-Haare
und bedauerst
auf einmal innigst
den Verlust
deines Lebens.
deutsch
tiếng Việt
Für meine Schwester
Der alte Spiegel
unserer Mädchenzeit
hängt noch
am selben Platz
unserer gemeinsamen Kammer
aber
darin
ist
für immer
dein sanftes Lächeln
nicht wiederzufinden
deutsch
tiếng Việt
Briefe aus der Heimat an einen deutschen Freund
Du fragst mich
was ich alles tun
seitdem ich wieder zu Hause bin…
Es regnet hier
jeden Tag
ein Monat ist verflossen
nun schaffe ich es endlich
morgens sehr früh aufzustehen
Mutter zuvorkommend
schleiche dann
zum Innenhof
um Feuer anzuzünden
mit nassem Holz
auf feuchter Tonerde
- es regnet alle - Dinge - ins - Wasser-
um so schwieriger ist es
für einen westlich gewordenen Menschen
das Feuer zu entfachen
um so mehr freue ich mich
wenn es entflammt, schön leuchtend in der Dämmerung.
Ich hole dann das Regenwasser
und fülle den Tonkessel
und warte auf sein erstes Summen
auf dem herrlichen Feuer
Da hocke ich im halben Schlummer
die kalten Hände zwischen den Beinen wärmend
und schaue mir sehr lange an
wie in aller Stille
das Haus den tosenden Regen erduldet
und genieße, was ich bei euch so vermisst habe,
DIE ZEIT.
deutsch
tiếng Việt
Zen-Seminar I
Gespräch:
Auf der Schneebrücke
dichten die Schneebälle
zu Worten
Nachtspaziergang:
Auch in der Winternacht
geht die Mondfrau
im Wasserfall
nackt baden
Winterbach:
Um nicht Eis zu werden
eilt der Bach emsig
an Schnee und Steinen vorbei
Koan: [11]
Am moosigen Ufer
ruht
der Schnee
jungfräulich
dem Leiden
des fließenden Baches
zuhörend.
deutsch
tiếng Việt
Zen-Seminar II
Die Kristallsonne
dieses eisigen Winters
macht reif
den vor einem Jahr erblühten Schneezweig
zu
Früchten
aus Diamanten.
Über ZEN
In dir
wird
die Einsamkeit
zur Heilsamkeit
Es ist
Non-
Zen
Meditation I
Im Donner und Blitz
erwacht
auf dem von Wellen zerrissenen
Lotusblatt
der wiedergeborene
Regentropfen
diamantenklar.
Meditation II
Es
berühren sich
im aufgeklärten Innern
des atembewussten Morgensees
hauch… weich
Berge und Menschen
zu
Stunden des Zazens
Zurück zum ZEN
Verdurstet von Wünschen
verdorben von Begierden
verkümmert von Menschen
verwundet und verrückt
von Illusionen
kehre ich zurück
zu dir
mit dir
eine Tasse Tee
zu
trinken.
Wiederkehr nach Deutschland
Als ich wegfuhr
sah ich noch
deine dunklen Augenbrauen
erfroren
versunken
verschwunden
hinter den Schneehügeln
bei der Wiederkehr
lächeln schon
die weißen Blüten
am Fenster
dem blauen Himmel entgegen.
Ein Haiku für Tuong Nhi
Die Reinheit des Schnees!
Kann ich sie aufheben
in der Hosentasche?
Regentag in der Pagode Truc Lam Hue
Auch der Hahn
fühlt
an diesem Regentag
nasse Füße!
Das wiedergefundene Kinderglück
Es ist Sommermittag
Ruhe herrscht
in den ermüdeten Unigebäuden.
Es pausiert
die philosophische Fakultät
samt ihren gewichtigen Persönlichkeiten.
Aus allen Fluren
ziehen Hirngespinste sich
wie Gespenster
in verfaulten Büchern zurück.
Das theoretische Gerede entfernt sich
Richtung Mensa.
Allein bleibt stehen
der neu verpflanzte junge Baum,
der einzige Fremdling im spekulativen Hof
vom sinnlichen Sonnenschein belebt
und vom streichelnden Wind beflügelt
lässt er seinen Kindkopf frei säuseln
die gesunden Schatten seines heiteren Laubes
mit den Lichttropfen necken und spielen
ein Licht-Schattenspiel,
das weder Unterschiede noch Grenzen weiß
weder Hochmut noch Demut
Wehmut noch Schwermut meint,
sondern einfach so ist
wie des Kindes Geist
an jenem fernen Sommertag
seines Geborenseins.
Verabredung
In der Vollmondnacht
trifft sich die „Isar“*
mit dem „Huong Giang“*
an der Kurve
der Träumerei.
* Der Hauptfluss in Muenchen
* Huong Giang: der Fluss der Düfte, Name des Hauptflusses in Hue, der alten Kaiserstadt von Vietnam
Herausgeber:
Deutsch-Asiatiches Begegnungszentrum e. V.
Reichenbacherstr. 33 - 8000 München 5
Copyright Kim Lan Thai
München, Juni 1989
Titelseite und Buchgestaltung: Giulio De Leo
[1] Nước mắm: vietnamesische Fischsauce, die fast alle Gerichte der vietnamesischen Küche begleitet.
[2] Sở Khanh: Name eines jungen Mannes in dem großartigsten Epos Vietnams „Đoạn trường tân thanh“ (Das Mädchen „Kieu“) von Nguyen Du, dem bedeutendsten Dichter der vietnamesischen klassischen Literatur im 19. Jahrhundert. So Khanh gilt in diesem Epos als der vietnamesischen Don Juan.
[3] Kiều oder Thúy Kiều: die Heldin des Epos „Thuy Kieu“, die sich einem falschen Kaufmann zur Konkubine verkaufen musste, um Ihren Vater vor der Gefängnisstrafe zu retten. Sie wurde danach dem Freudenhaus ausgeliefert und musste 15 Jahre das Schicksal einer Prostituierten erleiden.
[4] Tien-Duong: Name eines Flusses im Epos. An diesem Fluß wollte Kieu vor lauter Verzweifelung nach 15-jährigen Prostituierten-Leben Selbstmord verüben, nachdem sie sich ihres eigenen Lebensweges bewusst geworden war. Sie wurde von einer buddhistischen Nonne gerettet und in deren Pagode aufgenommen, bis sie ihre Familie und ihren treuen Geliebten wiedergefunden hatte.
[5] Kuan-Yin: weibliche Buddhafigur nach chinesischer und vietnamesischer buddhistischer Auffassung. Symbol der Barmherzigkeit und der Liebe.
[6] Lager: Unterkunftslager für vietnamesische Kontigent- Flüchtlinge.
[7] Hue: Die ehemalige Kaiserstadt von Vietnam.
[8] Unkraut-Haar: auf Vietnamesisch heißt es „toc sau“, d.h. diejenigen Haare, die nicht mehr länger zu wachsen vermögen, sie sind kraus, nicht seidig, verursachen oft Juckreiz und gelten als „Unkraut“ Es ist eine typisch vietnamesische (kosmetische) Sitte, daß die Muetter sich in den Mittagsstunden auf die Bambusbank legen, die Haare losbinden, von ihren jüngeren Töchtern die „Unkraut-Haare“ aussuchen und sie herausziehen lassen. Das Bild von Mutter und Tochter beim Beschäftigen mit dem zu Boden fallenden langen Haar gehört zum vietnamesischen Familienbild.
[9] Frühschoppen: Nach der asiatischen (vietnamesischen) Tradition ist der Wechsel der Jahreszeiten ein Anlass, Freunde einzuladen und Familienmitglieder zu einer kleinen Feier zu versammeln, um die neue Jahreszeit willkommen zu heißen und von der alten Abschied zu nehmen. Während der Feier wird oft ein Thema ausgesucht, das von jedem Teilnehmer in gereimter Form (Gedicht) oder in Melodie (Gesang) dargestellt wird.
[10] In der vietnamesischen Dichtung erscheint der Mond oft in der Gestalt einer schönen jungen Frau.
[11] Koan: Koan ist eine traditionelle Wendung des Zen-Meisters, um das Verständnis des Zen-Buddhismus bei Zen-Schülern zu beurteilen. Der Zen-Schüler muss lange über das Koan meditieren, bis er eine zufrieden- stellende Erklärung weiß. Ein Koan ist so etwas wie ein Problem, das der Zen-Meister seinen Schülern vorlegt. Das Dokument des Zens ist das, was jeder von uns bei seiner Geburt auf diese Welt mitbringt und zu entziffern versucht, bevor er stirbt.